Aus der Komfortzone ausbrechen
Die Wiedergeburt von Bands, die in den 70er Jahren entstanden und für immer verschwunden waren, ist im progressiven Mikrokosmos nicht ungewöhnlich. Die Wiedergeburt von Flame Dream ist jedoch etwas Besonderes. Vor allem, weil ihre Diskografie (die letztlich recht umfangreich war, aber mit dem fünften Album (1983) und dem sechsten (1986) an Qualität verlor) nie auf CD wiederveröffentlicht wurde, zumindest nicht offiziell, denn „Piratenversionen“ mit beschränktem Sound (von Vinyl überspielt) kursieren seit Jahren illegal in der Szene... Diese „Unsichtbarkeit“ hat zwar lange Zeit ein leichtes positives Mysterium um diese Schweizer Formation aufrechterhalten, aber sie hat ihre Musik angesichts des Streamings, das heute den Genuss einer unendlichen Diskothek ermöglicht, vor allem zu einem obskuren Absatz in den progressiven Enzyklopädien degradiert...
38 Jahre nach ihrem letzten Album, welches das vorläufige Ende der Band bedeutete, haben sich Flame Dream also in ihrer historischen und ursprünglichen Konstellation wieder zusammengefunden. Diese Feststellung ist zwar ungewöhnlich, aber noch bemerkenswerter wird sie, wenn man entdeckt, dass die vier noch aktiven Musiker an allen sechs Alben (von denen nur die ersten vier progressiv sind) mitgewirkt haben, die während ihrer ersten künstlerischen Existenz veröffentlicht wurden... Und dieses Quartett, das offensichtlich wie nie zuvor zusammenhält, hat beschlossen, Gegenwart und Vergangenheit mit einer unglaublichen Kontinuität und Selbstverständlichkeit miteinander zu verbinden. Ich habe mehrmals mit ihnen telefoniert und kann Ihnen versichern, dass diese Musiker erstaunlich enthusiastisch und leidenschaftlich sind, wie befeuert von der Idee, ihrer vor fast 50 Jahren begonnenen musikalischen Geschichte neue Kapitel zu schenken.
Die oben erwähnte Kontinuität bezieht sich nicht auf die Musik, die Flame Dream heute macht, sondern auf den Inhalt des neuen Albums. Die Band ist weit entfernt von den kommerziellen Auswüchsen früherer Werke und kehrt zu ihren progressiven Wurzeln zurück, mit einer Stärke und Reinheit, wie man sie bisher noch nicht erlebt hat. SILENT TRANSITION das sich aus langen, epischen Suiten von gleichbleibend hoher Qualität zusammensetzt, macht uns bewusst, dass Flame Dreams mangelnder Bekanntheitsgrad auch darauf zurückzuführen ist, dass keines ihrer besten Werke frei von schwächeren Momenten war. Im Gegensatz zu manch anderer Band, deren Name durch ein emblematisches Album geprägt wurde, konnte die Schweizer Band ihre Aura nicht auf einem soliden Fundament aufbauen, das von der breiten Masse als solches anerkannt wurde.
Das neue Album ist zweifellos das Werk, das am stärksten auf Beständigkeit und Kohärenz setzt. Hier gibt es keine Schwächen, weder instrumental noch gesanglich. Es ist bemerkenswert, dass Peter Wolfs Stimme über die Jahre nichts von ihrem Umfang verloren hat, was keine Überraschung ist, wenn man bedenkt, dass der irisch-schweizerische Sänger sein Stimmorgan täglich sehr gut pflegt. Der Gesang, der manchmal an Jon Anderson oder Peter Nicholls erinnert, bildet einen überzeugenden Kontrapunkt zu den langen und ausgiebigen instrumentalen Ausbrüchen. Die Anspielung auf den IQ-Vokalisten ist kein Zufall, denn die Musik, die Flame Dream heute machen, erinnert manchmal an die englische Band und driftet in eine anspruchsvolle Form von Neo-Progressivität ab.
Die Schweizer verleihen dem neuen Album auch durch die Vielfalt und Relevanz ihrer künstlerischen Entscheidungen eine neue Dimension. Das führt zum Beispiel dazu, dass wir Momente symphonischer Fusion entdecken, die dank einer mäandernden und melodischen Gitarre im Stil von Allan Holdswoth den besten Ausdruck haben. Und da die Keyboards hier reich und vielfältig sind, ist es nicht abwegig, hin und wieder an UK zu denken, eine alles in allem recht seltene Referenz trotz des Bekanntheitsgrades der Band, die die letzte herausragende Gruppe des gesegneten Jahrzehnts der progressiven Strömung war…
SILENT TRANSITION ist eine moderne Produktion, die Vergleiche mit früheren Werken der Band hinfällig macht, da sie die Vergangenheit und die Zukunft in den Vordergrund stellt. Diese formale Modernität wird auch durch einige Pop- (Supertramp oder BJH) oder AOR-Passagen (Saga) aufrechterhalten, die nie zu aufdringlich sind und wie wohltuende Atemzüge inmitten der opulenten instrumentalen Kavalkaden wirken...
In einem scheinbaren Paradoxon gleicht SILENT TRANSITION einem Erstlingswerk, dessen treibende Kraft die wiedergefundene Leidenschaft seiner Protagonisten ist. Mit einem fast jugendlichen Enthusiasmus haben die vier Musiker von Flame Dream die Progressivität ihrer grünen Jahre transzendiert und sie mit einer umfangreicheren, abwechslungsreicheren und vor allem solideren Architektur entwickelt. Das „Schweizer Yes“, das der Band in ihren Anfängen fälschlicherweise zugeschrieben wurde, gibt es nicht mehr, und nun hat eine Gruppe von aufmüpfigen und sympathischen „Kids“ die Fackel übernommen, um eine authentischere und persönlichere Musik zum Leben zu erwecken. Flame Dream haben hier vielleicht manchmal zu viel gewollt, aber dieses Zuviel ist das Ergebnis einer wiedergefundenen Frische und beruht auf einem exaltierten und aufregenden Talent. Freunde, macht Platz für euer „zweites“ Album... (lächelt)
Olivier PELLETANT
Interview mit Peter Wolf
Ein neues Album von Flame Dream nach fast 40 Jahren Stille - das ist eine echte Überraschung. Was habt ihr in all den Jahren gemacht und was hat euch dazu bewogen, die Band zu reaktivieren? Wir haben nie aufgehört, Musik zu machen und zu kreieren. Wir haben an vielen Musikprojekten, Theaterproduktionen, Soundtracks und Musiksessions teilgenommen. Außerdem gründete Pit Furrer, unser Schlagzeuger/Percussionist, „Pit's Drums“, ein bekanntes Geschäft für Musikinstrumente in Luzern. Im Laufe der Jahre erhielten wir viele Anfragen für Neuauflagen unserer früheren Alben. Unser Ziel war es, dies auf kreative Weise zu tun. So entstand die Idee, neue Kompositionen und Texte zu schreiben. So machten wir aus diesem Unterfangen eine musikalische Herausforderung und gaben unserer Musik und unseren Texten eine neue Dimension in einem zeitgenössischen Kontext. Die Tatsache, dass wir mit dem hervorragenden englischen Gitarristen Alex Hutchings (er lebt in Bristol) zusammenarbeiten konnten, hat uns zusätzlich motiviert. Einige Texte wurden in Dublin, Irland, geschrieben (ich habe dort einige Wurzeln)...
Erstaunlicherweise sind die Bandmitglieder seit euren Anfängen im Jahr 1977 dieselben geblieben, und wenn man sich die Telefonate der letzten Wochen ansieht, scheint es, als wärt ihr ein fröhlicher, freundlicher Haufen... Wie erklärst du dir diese lange Freundschaft? Trotz der langen Pause seit dem letzten Album 1986 hat sich unsere Freundschaft gefestigt und entwickelt; und man darf nicht vergessen, dass Luzern, die Stadt, in der wir leben, relativ klein ist. Deshalb sind wir immer in Kontakt geblieben, obwohl wir viele Veränderungen in unserem Leben durchgemacht haben. Wie wir alle wissen, ist das Leben immer voller Überraschungen - guter und weniger guter. Daher ist es sehr wichtig, MUSIK zu machen und trotz allem positive Schwingungen zu bewahren. Es ist unsere Leidenschaft für die MUSIK, die uns trägt. Es freut uns jedenfalls zu hören, dass sich das auf lebendige Weise bei dir widerspiegelt (lacht).
Kannst du uns ein paar Worte zu den Themen sagen, die auf dem neuen Album behandelt werden? Sollte man diesen „stillen Übergang“ als ein Bestreben sehen, durch die Hintertür wieder in den progressiven Mainstream zurückzukehren, während ihr eher das Bedürfnis zu haben scheint, euer Glück, wieder da zu sein, herauszuschreien? Der Titel unseres neuen Albums hat mehrere Bedeutungen. Die Texte sind eine Reflexion über den aktuellen Stand der Dinge. Wir leben und arbeiten in einer zerrissenen Zeit, und das auf globaler Ebene. Isolation im digitalen Zeitalter, Einsamkeit, die katastrophalen Folgen der Polarisierung, Covid, der Verlust der Artenvielfalt... Das Cover von SILENT TRANSITION ist ein visuelles Statement, bei dem einige der Schlüsselwörter herausstechen. Das Booklet der CD enthält übrigens unter dem Porträt jedes Musikers den Hinweis auf ein spezielles Buch. Warum empfehlen wir diese Bücher? Lesen ist so wichtig ... (lächelt)
In der Vergangenheit wurden Sie oft als das „Schweizer Yes“ bezeichnet, was meiner Meinung nach sehr einschränkend ist. Unsere musikalischen Wurzeln liegen in der klassischen Musik und im Jazz, aber auch in Filmsoundtracks. Man darf nicht vergessen, dass wir unsere Band in sehr jungen Jahren gegründet haben. Wenn man progressive MUSIK mit langen Kompositionen und komplexen Stücken spielt, ist es verständlich, dass die Hörer oder die Medien einem eine Art Etikett anheften. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die bekanntesten Bands aus dieser Zeit als Vergleich herangezogen wurden. Da wir eine sehr aktive Live-Band waren und schon früh visuelle Elemente auf der Bühne einsetzten, konnten wir nach und nach eine eigene Identität aufbauen. Natürlich wurden wir auch von italienischen Bands, der Canterbury-Szene, dem Jazz und zeitgenössischen Komponisten beeinflusst...
Wie auch immer, SILENT TRANSITION ist ein Album mit einer eigenen Persönlichkeit und es ist sehr schwer, es einer anderen Band zuzuordnen. Ist das ein Kompliment für dich? (lacht) Und wie würdest du eure Musik im Jahr 2024 beschreiben? Danke für dein Kompliment. Wenn man seine eigene Musik kreiert, ist es schwierig, sie mit Worten zu beschreiben. Unser Ziel ist es, spannende Progressive Rock tracks mit markanten Rhythmen zum Leben zu erwecken. Und auch Kompositionen mit eindringlichen Melodien zu schaffen, die in verschiedenen Kontexten und Arrangements wiederkehren, sowie ausdrucksstarke und passende Texte. Es liegt an den Zuhörern, diese musikalischen Atmosphären zu erforschen und zu entdecken. Zusätzlich natürlich auch ihre eigene Vorstellungskraft zu erleben, wenn sie unsere MUSIK hören....
Das neue Album ist sicherlich das ehrgeizigste der Band, und man könnte sich fragen, ob ihr nicht die verlorene Zeit aufholen und eine durchschlagende Vorschau auf euer Talent zeigen wolltet. Ist das der Fall? Wir sind uns der Jahre, die vergangen sind, sehr bewusst. Als Musiker und Komponist sind für uns Glaubwürdigkeit sehr wichtig. Deshalb war es nach langer Zeit unser Ziel, spannende MUSIK zu schaffen - in einem aktuellen Kontext. Die Tatsache, dass wir all unsere musikalischen Erfahrungen und das, was wir über Aufnahmetechniken einschließlich der Verwendung digitaler Technologie gelernt haben, integrieren konnten, erklärt sich von selbst. Wie wir bereits kommunziert haben, ist es auch ein großes Glück, dass der hervorragende Gitarrist Alex Hutchings bei den Aufnahmen von SILENT TRANSITION mitgewirkt hat...
Die Musikwelt hat sich seit den 1970er Jahren stark verändert und die Träume vom Erfolg sind mittlerweile sehr trügerisch. Ich kann mir vorstellen, dass dies für Euch heute eine sehr nebensächliche Sorge ist, aber was hält Ihr von diesem Zeitalter des hemmungslosen Zappens, das jedem Werk nur wenig Zeit lässt, um bekannt und geschätzt zu werden? Eine gute Frage! Ja, es gibt keinen Ersatz dafür, sich Zeit zu nehmen, um anregende Musik zu hören und/oder ein interessantes Buch zu lesen. Wir kommen also auf den Titel SILENT TRANSITION zurück: Der Text ist eine Reflexion über den Zustand der Dinge JETZT. Es liegt an jeder einzelnen Person, darüber nachzudenken.
Ihr habt Euch entschieden, den Vertrieb und die Werbung für SILENT TRANSITION selbst zu übernehmen. Warum habt Ihr Euch dafür entschieden? Habt Ihr beispielsweise nicht versucht, Kontakt zu einem Label aufzunehmen? Wir arbeiten als kleine, flexible Einheit und als unabhängige Produzenten mit unserem eigenen Label. Auf diese Weise können wir die Dinge so umsetzen, wie wir es wollen, und zwar reaktionsschnell. Aus diesem Grund werden auch unsere früheren progressiven Alben auf unserem Label wiederveröffentlicht. Unser Ziel ist es, uns ohne Kompromisse auf die MUSIK zu konzentrieren. Wir werden sehen, wie sich die Dinge entwickeln, da dies mit viel Arbeit verbunden ist.
Welche Pläne habt Ihr derzeit? Ich kann mir vorstellen, dass Ihr Euch nicht zurücklehnen und die positiven Kritiken zum neuen Album nutzen werdet, um Eurer langen Karriere eine Fortsetzung zu geben. Wir sind immer noch dabei, für das neue Album zu werben. Im Frühling 2025 wird SILENT TRANSITION als LP (hochwertiges schwarzes 180g-Vinyl, Klappumschlag mit cover-art und Texten) erscheinen. Die vorherigen progressiven Alben werden ab Sommer 2025 „Schritt für Schritt“ neu aufgelegt. Wir arbeiten weiterhin an neuen Kompositionen und Texten, das ist unsere Passion.
Wenn du zum Schluss noch etwas für die Leser von Big Bang hinzufügen möchtest, überlasse ich dir das Schlusswort... One world, one voice - passion for music. Eine Welt, eine Stimme - Passion für Musik.